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Ilona Sauer 

Laudatio von Ilona Sauer

Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Winni, liebe Heike,

Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich die Laudatio für das Gallus Theater halten darf.

»Die Frage "Wer bin ich?" ist nicht abzulösen von Fragen wie "Wo bin ich?", "Wo bist du?" oder "Wo sind wir?"«. Dieses Zitat des Philosophen Bernhard Waldenfels ist das Motto der Hessischen Gastspielreihe FLUX, für die ich derzeit arbeite. Es gilt aber vielleicht noch stärker auch für die Kinder- und Jugendtheaterarbeit des Gallustheaters.

Das Gallus Theater, inmitten des Frankfurter Stadtteils Gallus, war und ist ein besonderer Ort. Ein wildes Kulturzentrum, das von vielen gestaltet wurde, war das Gallustheater in seinen Anfängen. Montags tagte die Ökogruppe in den Räumen des Zentrums, anfänglich organisierte der Verein Kind im Gallus noch Nachhilfe in den kleinen Büroräumen im ersten Stock, in denen ebenfalls immer donnerstags die aufgeregten Teamsitzungen mit vielen Zigaretten und Asche auf dem Fußboden stattfanden. Hinterher in der Gallus Disko erholte man sich gemeinsam von den manchmal aufreibenden Debatten. Toto Lotto, die Punkband der Heiner Goebels, Alfred Harth & Co, angehörten, spielte donnerstags in der Gallus Disko auf. Die Einnahmen der Disko halfen dabei das Zentrum zu finanzieren. Unterschiedliche kulturelle Gewohnheiten von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen prallten im Galluszentrum aufeinander: Italiener, Spanier, Kurden und Deutsche feierten dort gemeinsam ihre Feste und zeigten ihre Inszenierungen in deutscher, italienischer und manchmal auch türkischer Sprache.

Das Gallus Theater war in vielem seiner Zeit voraus. Viele Projekte der kulturellen Bildung, die heute initiiert werden, wurden im Gallustheater experimentell und mit großem Erfolg erprobt. Theater als Ort der Erfahrung und Erfahrung als Ausgangspunkt von Lernen war das Credo von Willy Praml als er seine Theaterarbeit mit den italienischen Jugendlichen, gemeinsam mit Brian Michaels im Galluszentrum und in der Jugendbildungsstätte Dietzenbach startete.

Willy Praml und Brian Michaels zähmten die anarchischen italienischen Jugendlichen durch ihre künstlerische Arbeit und machten unter anderem in "Qui e la" bereits Ende der 70iger Jahre, die unterschiedlichen kulturellen Traditionen zum Gegenstand der Theaterarbeit. Das Stück "Hier und Dort", so heißt der Stücktitel auf deutsch, erzählte die tragikomische Geschichte einer Familie aus Sizilien, die mit der Bahn in die Bundesrepublik kommt und hier lebt. In einem Land wo Milch und Honig fließen und jeder einen Mercedes fährt. IMACAP, Teatro Siciliano, I Teroni, Teatro Siciliano Ragazze feierten deutschlandweit ihre Erfolge. Aber nicht nur das, es wurden Brücken geschlagen zu der Heimat. Mit ihren Stücken im Gepäck tourten die jungen Italiener durch Sizilien.

Migration als grundsätzlichen Veränderungsimpuls zu verstehen und diese mit künstlerischen Produktionen zu verknüpfen und auf den Migrationshintergrund des Publikums Bezug zu nehmen waren von Anfang an Aspekte der Theaterarbeit für und mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Theatralität an den Orten des Lebens zu suchen und die Biografie der Akteure als Reichtum zu begreifen, war ein wesentlicher Ausgangspunkt der Theaterarbeit im Galluszentrum und ist es auch bis zum heutigen Tag geblieben.

Die Gallusbühne knarrte zwar von Anfang an aus Geldnot, aber eines ist im Gallus Theater so selbstverständlich, dass kaum jemand im Alltag darüber redet; die Idee Kulturarbeit an die besonderen lokalen Bedingungen der unmittelbaren Stadtteilumgebung anzubinden. Nicht ohne Grund sind die Besucher und Mitarbeiter stolz auf ihr hausgemachtes Paradox. "Eine Art großstädtischer Provinzialismus, so dass sich lokales Milieu und Internationalismus nebeneinander halten", schrieb die Frankfurter Rundschau 1987. Das, meine Damen und Herren, erinnert an die Ausschreibung des Fonds Heimspiel, den die Kulturstiftung des Bundes 2011 auflegte: "einen Fonds zur Förderung von Theaterprojekten, die sich mit der urbanen und sozialen Realität der Stadt auseinandersetzen und ein neues Publikum für das (Stadt-)Theater gewinnen wollen." Davon waren die etablierten Theater vor 30 Jahren natürlich Lichtjahre entfernt. Im Gallus Theater befand man damals, dass zur Stadt auch die Kinder gehören.

Deshalb startete 1983 ergänzend zum Jugendtheater das Kindertheater im Gallustheater. Theater schauen und Theater spielen wurde in den Kinderkursen von Anfang an verbunden. Generationale Perspektiven begegneten sich auf engstem Raum. Die Bühne der Erwachsenen, der professionellen Theater war zugleich die Bühne der Kinder und Jugendlichen. In einem der ersten Projektanträge aus dieser Zeit hieß es: Ziel unserer Arbeit ist: dass auf der gleichen Bühne Kinder und Jugendliche Profis und Laien proben und spielen. "Theater für alle als Fest der Sinne, als ein Ereignis, das Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus der Isolation der vier Wände herausholt und sie in einem theatralen Ereignis versammelt."

Der monatlich veranschlagte Projektetat für 6 Gastspiele betrug übrigens 3060 DM und schloss Werbung, garantierte Gagen und das Honorar für die Organisation ein. Oftmals spielten die Kinderkurse, - wenn gelegentlich auch unfreiwillig, weil die Theater für den Kinderkurs nicht abbauen wollten - in dem Bühnenbild des Theaters, das am Abend auftrat. Sie erkundeten den Bühnenraum und füllten ihn mit eigenen Geschichten.

An den Kinderkursen teilnehmen konnten Kinder ab 4 und oftmals kamen auch die kleineren Geschwister mit. Die heute in solchen Projekten geforderte Nachhaltigkeit hat das Gallus Theater schon damals gewährleistet. Die Kinder blieben lange in den Theatergruppen, manche bis zu ihrem 18. oder 21. Lebensjahr. Das Theater hat sich sozusagen in ihre Biographien eingeschrieben und sicher auch ihre Lebensentwürfe beeinflusst.

In den Konzeptionen eines Kindertheaterhauses wurden diese Ideen und Utopien neu formuliert und weiterentwickelt: Die Kinder werden hier nicht nur als Theaterbesucher, sondern auch als Mitgestalter gesehen. Gerd Taube, Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums und Vorsitzender der BKJ schrieb hierzu: "Es geht um Teilhabe der Kinder an der Theaterkunst, (…) Nur jene Häuser sollten sich Kindertheaterhäuser nennen dürfen, in denen die Teilhabe der Zuschauer an der Rezeption und Produktion von Theaterkunst möglich ist."

Das Gallus Theater liefert hier ein Modell und bietet Kindern und Jugendlichen von Anfang an einen Möglichkeitsraum, in dem sie als Experten ihres Alltags, so würde man das vermutlich heute nennen, zu Wort kommen können. Da das Gallus Theaters aber auch ein Theater für Erwachsene war und ist, bedeutet es, wenn man das Modell konsequent zu Ende denken würde eigentlich die Utopie eines Theaterhauses für alle, in dem sich die Perspektiven aller Generationen begegnen können, sowohl in gemeinsamen künstlerischen Projekten, wie auch im Wechselspiel als Zuschauer und Spieler der jeweils anderen Perspektive auf die Welt.

Zu realisieren wäre ein solches Konzept mit den Menschen aus dem Stadtteil: Elternvereine, das Kinderhaus Gallus und die benachbarten Schulen waren schon von Beginn an Partner des Gallus Theaters. Insbesondere die kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Paul-Hindemith-Schule beförderte den Aufschwung der Theaterarbeit in Schulen und ist ein Vorläufer des Projektes TUSch-Rhein-Main, bei dem das Gallus Theater nun ebenfalls Partner ist.

Wie stark die Verbindung des Gallustheaters mit dem Stadtteil war und ist, schreibt auch Ortsvorsteherin Eva Triantafillidou: "Die Eigennamen Teatro Sicillano di Gallus, Teatro Simpatico, Gallus Kids, Gallus Sternchen und tadhsch-Jugendclub Gallus Theater stehen für eine lange Tradition." Der aktuelle Jugendclub tadhsch gelte als eine der besten Jugendtheatergruppen der Stadt, schreibt sie weiter. Dem wäre eigentlich nur hinzuzufügen, dass er mit Katrin von Plottnitz eine Leiterin hat, die dem Gallus Theater seit den Anfängen eng verbunden ist.

Während also das Theater mit Kindern und Jugendlichen florierte, hatte es das professionelle Theater für Kinder schwerer. Erst in den letzten Jahren ist in Frankfurt die Einsicht gewachsen, dass Theater für Kinder öffentliche Anerkennung und vor allem eine gute finanzielle Ausstattung benötigt.

Um qualitätvolles Kindertheater zeigen zu können, wurden im Gallustheater Kindertheaterfestivals veranstaltet, zu Anfang sogar in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel. 1994 gründete Heike Bonzelius dann gemeinsam mit Ralph Förg vom Theaterhaus Frankfurt und dem Jugendamt Frankfurt das Festival "Starke Stücke" und setzte damit die Tradition der Kindertheatertage auf internationaler Ebene fort.

Jenseits dieser Highlights suchte sie für das Kindertheater nach kleinen Formen und Verknüpfungen mit dem Abendspielplan. So veranstaltete das Gallus Theater in Kooperation mit dem Mousonturm zum Beispiel zwei Objekttheaterfestivals mit Aufführungen für Kinder und Erwachsene.

Indem Theater für Kinder an der Schnittstelle von bildender Kunst, Puppenspiel und Performance gezeigt wurde, band Heike Bonzelius Künstler an das Theater, die auch für Kinder nach neuen Formen suchten und auf dieser Suche ein neues Publikum entdeckten: die allerkleinsten Zuschauer unter drei Jahren, für die das Theater und seine Mittel stets neu erfunden werden können. Qualitätvolles Puppen- und Figurentheater für Kinder, präsentiert von Absolventen der beiden wichtigsten Hochschulen in Stuttgart und Berlin, wird zum Schwerpunkt des Kindertheaterprogramms und setzt eigene Akzente. Heike Bonzelius war es denn auch, die in Frankfurt als Erste, Theater für die Allerkleinsten präsentierte.

Auch andere Medien spielten früh eine Rolle: 1992 wurde auf Initiative des Theaters eine Videoabteilung gegründet. Seit 1997 ist das Gallus Theater gleichberechtigter Mitveranstalter der Visionale, dem größten hessischen Kinder- und Jugendfilmfestival. Die Einbeziehung der Videokunst führte auch auf der Bühne zu einer zunehmenden Verschränkung theatraler und medialer Bilder. Auch wenn heute kaum noch eine Inszenierung ohne Videoeinspielung auskommt, in einem blieb sich das Gallus Theater auch hier treu: Ob beim Theater mit Jugendlichen oder in den Filmprojekten des Galluszentrums, immer steht die Eigenperspektive der Akteure im Zentrum und oftmals liefert der Stadtteil das Material für die Recherchen.

Die Leidenschaft von Heike Bonzelius gehört, den mit dem Körper erzählten Geschichten, dem zeitgenössischen Tanz. Das Gallus Theater hat Tanz für Kinder und Tanz mit Kindern als eigenständige Form des Kinder- und Jugendtheaters gefördert und etabliert. Die Schaffung einer Bühne, auf der zeitgenössischer Tanz präsentiert werden kann, war der entscheidende Impuls für den Bau der neuen Spielstätte in den Adlerwerken, in die das Gallus Theater 1997 umzog. So gehörte es zum Konzept, dass Tanz einer der Schwerpunkte des neuen Gallus Theaters in den Adlerwerken mit Gastspielen von Tanzcompagnien für Kinder wurde. Heidemarie Böhm-Schmitz, Yasna Schindler, Tanzplan und natürlich das Tanzensemble Johanna Knorr mit "Picknick im Kohlfeld" und "Schwestern" stehen für diesen Schwerpunkt, in dem zum einen die Sichtweisen der Heranwachsenden einen eigenen tänzerischen Ausdruck finden, und zum anderen professioneller Tanz für Kinder gezeigt wird. Und Sie ahnen es schon: Auch hier war das Gallus Theater wieder einmal eines der ersten.

Auch wenn zum Gallus Theater viele Akteure auf und hinter der Bühne gehören, für die Frankfurter Theaterszene sind Winni Becker und Heike Bonzelius d a s Gallustheater. Ein Team seit 1986 und doch so verschieden: Während Heike Bonzelius Leidenschaft dem Tanztheater gehört, ist für Winfried Becker der Dialog mit dem Publikum der Motor seiner Arbeit. Der Zu-Schau-Spieler steht für ihn im Mittelpunkt. "Das theatrale Bild ruft im Zuschauer einen Film gespeicherter Bilder auf, glücklich der Moment, wenn sich hierbei die Vorstellungen der Künstler mit denen der Zuschauer treffen.", schreibt Christel Hoffmann die große alte Dame des Kinder- und Jugendtheaters. Diesem flüchtigen Moment liebt der Mathematiker und Theaterleiter Winfried Becker, für diesen Moment lohnen sich alle Mühen des Veranstaltens.

Lieber Winni, liebe Heike, initiiert weiterhin Wechselspiele zwischen Künstlern und Publikum, vor allem aber sagt weiterhin "wir sind wild", gebt den Kinder, Jugendlichen und jungen Theatermachern Raum für ihre Sichtweisen und Experimente und ihre theatralen Recherchen und Interventionen in eurem Stadteil dem Gallusviertel.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit